Das Meer sehen und sterben
Für viele „normale“ Touristen gehört das Essen des maritimen Klassikers zum gewöhnlichen Urlaubsprogramm, ist ganz alltäglich, fast schon nebensächlich. Nicht so für Ursula Siekmann. Denn die schwerstkranke 70-Jährige wünschte sich nichts sehnsüchtiger, als vor ihrem Tod noch einmal in ein Fischbrötchen zu beißen, dabei ein letztes Mal aufs Meer blicken zu können, die Wellen rauschen zu hören, den intensiven Geschmack salziger Seeluft auf den Lippen zu spüren.
Gerne hätten ihr die drei erwachsenen Kinder diesen so wichtigen Herzenswunsch erfüllt – doch allein die Organisation der Fahrt vom Braunschweiger Hospiz Am Hohen Tore an die Küste, stellte die Familie vor riesige Hürden. Denn der Gesundheitszustand der älteren Dame verschlechterte sich immer mehr. Sie litt zunehmend unter unerträglichen Schmerzen, brauchte rund um die Uhr Sauerstoff. Zum Glück wusste dasPalliativ Netz Peine Rat. Mitarbeiterin Anke Garrelts gab Tochter Manuela Buhl den Tipp, sich an das Wünschewagen-Team des Arbeiter-Samariter-Bund zu wenden. Ein guter Tipp, wie sich herausstellte: Innerhalb kürzester Zeit organisierte das Team von Hannover aus die Fahrt an den Timmendorfer Strand.
Die drei ehrenamtlichen Wunscherfüller Christian Behrens, Jannick Plötz und Michelle Wollenwebermachten Ursula Sieckmann zur Reisenden, begleiteten sie und ihre Kinder mit dem niedersächsischen Wünschewagen an ihren Sehnsuchtsort. Behrens: „Sie war aufgeregt und freute sich auf den Tag, war aber auch sichtlich erschöpft und deutlich gezeichnet durch die Krankheit." Schon die Fahrt zum Ostseeheilbad – ein Genuss für die sterbenskranke Frau: „Immer wieder hat sie Scherze gemacht, stets ein Lächeln im Gesicht getragen", erinnert sich Behrens. Kaum gelandet, machte sich die besondere Reisegruppe auf zur 275 Meter langen Maritim-Seebrücke. Meeresbrise und Möwengeschrei inklusive. Und dann der so lang ersehnte Moment: Der Biss ins Fischbrötchen. Zweimal noch schaffte es die 70-Jährige davon zu kosten, mehr ließen ihre Kräfte am Ende dann doch nicht mehr zu.
Am Abend ging es für die Sterbenskranke und ihre Familie wieder nach Braunschweig ins Hospiz. Und dort, nur wenige Augeblicke nach der Ankunft, erfüllte sich für Ursula Siekmann noch ein sehnsüchtiger Wunsch: Der nach einem friedlichen Einschlafen. Für immer. Tochter Manuela Buhl sagt über diesen, für die ganze Familie, sehr intensiven Tag: „ Ich kann es gar nicht in Worte fassen, wie dankbar wir Ihnen sind, dass sie uns ermöglicht haben, sie auf ihrer letzten Reise noch so glücklich gesehen zu haben. Ohne ihre Hilfe wäre das nicht möglich gewesen. Danke an das ganze Wünschewagen-Team, aber auch an das Palliativ Netz Peine und das Hospiz Am Hohen Tore für die tolle Betreuung." Die Reise an den Timmendorfer Strand – auch für die ehrenamtlichen, erfahrenen Wunscherfüller ein besonderes Erlebnis, betont Christian Behrens: „Auf vielen Wunschfahrten erleben wir schöne, aber auch traurige Momente. Aber bei Frau Siekmanns letzter Reise spielte sich die gesamte Bandbreite an Emotionen ab – vom herzlichen Lachen bis zum Traurigsein über den dann doch unerwarteten Tod am Ende des Tages. Es tut unglaublich gut zu wissen, dass wir der Familie noch einmal einen so innigen Tag bereiten duften. Das ist auch für uns etwas ganz Besonderes."